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Denken Sie auch immer nur an Sex?
SIGMUND FREUD ZUM 150. GEBURTSTAG, 1856 – 2006
Wahrheit und Wahl. Die Psychoanalyse begegnet der Literatur von Thomas Bernhard



Denken Sie auch immer nur an Sex?

"Der Begriff des Sexuellen umfasst in der Psychoanalyse weit mehr, er geht über den populären Sinn hinaus. Wir rechnen zum ´Sexualleben´auch alle Betätigungen zärtlicher Gefühle. Wir sprechen darum lieber von Psychosexualität, legen so Wert darauf, dass man den seelischen Faktor des Sexuallebens nicht übersehe und nicht unterschätze. Wir gebrauchen das Wort Sexualität in demselben umfassenden Sinne wie die detusche Sprache das Wort ´lieben´."
Sigmund Freud, 1910

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SIGMUND FREUD ZUM 150. GEBURTSTAG, 1856 – 2006

„Weil wir Illusionen zerstören, wirft man uns vor,
dass wir die Ideale in Gefahr bringen.
So mächtig auch die Affekte und die Interessen der Menschen sein mögen,
das Intellektuelle ist doch auch eine Macht.“

Sigmund Freud (1856 – 1939)

Wenn man nicht draufgehen will …
Maria Lassnig formulierte es so: „Gefühle zu ergründen ist in den positivistischen Philosophien ja ganz unmodern geworden. Man wird ja schon wieder erkennen, dass man zuerst die Psyche ergründen muss, wenn man nicht draufgehen will.“ Ums Ergründen geht es. Um die Analyse vor der schnellen, schön verpackten Synthese. Freud hat uns das geduldige Zuhören, das Hören auf die – noch unbewusste – Subjektivität des Analysanden gelehrt. Die Psychoanalyse zeigt, was hier und jetzt vom Individuum und von der Kultur nicht gewusst werden will. Das Unbewusste. Das noch nicht Sagbare. Hier lauert die verdrängte, verleugnete Wahrheit des Menschen und seiner Kultur. Die Psychoanalyse hat eine Philosophie der Freiheit mit einer Theorie der Psyche verbunden. Sie zielt auf ein freieres, selbst-bewussteres Denken und Handeln, das um die Kräfte und Dämonen des Unbewussten und des Trieblebens weiß. Freud sprach von der „leisen Stimme des Intellekts“, die nicht ruhe, ehe sie gehört werde. Eine andere Aufklärung.

WIR FEIERN GEBURTSTAG
Das Psychoanalytische Seminar Vorarlberg, dasLacan Archiv Bregenz und das Jüdische Museum Hohenems haben – in Kooperation mit dem Spielboden Dornbirn und dem Theater Kosmos Bregenz, mit finanzieller Unterstützung des Landes Vorarlberg – eine Vortragsreihe initiiert, zu der wir alle Interessierten herzlich einladen möchten.

Psychoanalyse und Veränderung
Wir beginnen am Freitag, 3. Februar, 20.00h mit einem Vortrag in der Villa Raczynski (Marienberg), Bregenz. Jan Ponesicky, Psychoanalytiker aus Prag, wird über „Veränderungsprozesse während der Psychoanalyse“ sprechen. Wir wissen doch: Nichts ersehnt der Mensch mehr, vor nichts aber hat er mehr Angst, als vor der eigenen Veränderung und Verwandlung. Denn dies ist mit Konflikten verbunden, die das narzisstische Ideal von Harmonie und Identität durchqueren.

Freud und das 21. Jahrhundert
Am Samstag, 1. April, 20.00h wird Avi Rybnicki, Psychoanalytiker aus Tel Aviv, im Theater Kosmos in Bregenz referieren. Sein Thema: „Die Relevanz von Freud für die Klinik des 21. Jahrhunderts“. Avi Rybnicki formulierte es in der Zeitschrift „texte: psychoanalyse. ästhetik. kulturkritik“ so: „Wir leben immer mehr in einer Kultur des Vollständigen, der Verleugnung des Mangels, der Kastration und des Todes. Die Wissenschaft verspricht uns, dass wir mit Hilfe der Genforschung, hinter der enorme wirtschaftliche Interessen stehen, sogar den Tod überwinden könnten. Wunderrabbiner und alle möglichen Healer bieten Genesung für alles durch Glauben und Willenskraft an, Sexologen versprechen, das Patent dafür gefunden zu haben, dass der Mann immer kann und die Frau immer will. Die Wirtschaftler versprechen die „richtige Wirtschaft“, die Kunst das totale Erlebnis, alles geregelt durch pseudoobjektive und valide Gesetzmäßigkeiten.“ Demgegenüber setzt Rybnicki auf die demontierende, zweifelnde und desillusionierende Kraft der Psychoanalyse, die um den strukturellen Mangel des Seins weiß.

Der Einfluss des Jüdischen
Am Samstag, 6. Mai, 20.00h ist es dann soweit. Im Jüdischen Museum Hohenems feiern wir Freuds 150.! André Michels, Psychoanalytiker in Luxemburg und Paris, wird über „Den Einfluss des Jüdischen auf das Denken Freuds“ sprechen. Sigmund Freud hat ausgerechnet an seinem 70. Geburtstag, am 6. Mai 1926 an die Mitglieder des Vereins B´nai B´rith über sein Verhältnis zum Judentum gesprochen: Nicht der Glaube, auch nicht der nationale Stolz habe ihn an das Judentum gebunden, „denn ich war immer ein Ungläubiger, bin ohne Religion erzogen worden, wenn auch nicht ohne Respekt vor den „ethisch“ genannten Forderungen der menschlichen Kultur. (…) Und dazu kam bald die Einsicht, dass ich nur meiner jüdischen Natur die zwei Eigenschaften verdankte, die mir auf meinem schwierigen Lebensweg unerlässlich geworden waren. Weil ich Jude war, fand ich mich frei von vielen Vorurteilen, die andere im Gebrauch ihres Intellekts beschränkten. Als Jude war ich dafür vorbereitet, in die Opposition zu gehen und auf das Einvernehmen mit der “kompakten Majorität“ zu verzichten.“

Psychoanalyse und Körper
Wir setzen unsere Vortragsreihe am Freitag, 1. September, 20.00h am Spielboden Dornbirn fort. Peter Widmer, Psychoanalytiker aus Zürich, wird über „Das Spiegelbild und seine Metamorphosen. Dimensionen des Körperbildes“ sprechen. Widmer hat in seinem Buch „Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder die zweite Revolution der Psychoanalyse“ auf beeindruckende Weise gezeigt, wie sehr die Psychoanalyse durch das zentrale Konzept des Begehrens radikalisiert wird. Die Ethik der Psychoanalyse dreht sich um den Leitspruch: „Nicht in seinem Begehren nachgeben.“ Es geht darum, sich dem eigenen, anstößigen, unbequemen – unbewussten - Begehren zu stellen, anstatt nur von diesem getrieben zu werden. Am Spielboden wird Peter Widmer über seine neuesten, in seinen Lehraufträgen in Japan ausgefeilten Arbeiten über den Körper und das Körperbild referieren.

Marlene Streeruwitz: „Sigmund Freud Vorlesung“
Unsere Geburtstagsfeier findet am Samstag, 2. Dezember am Spielboden Dornbirn ihren Abschluss. Marlene Streeruwitz, freie Autorin und Regisseurin in Wien und Berlin, wird die erste „Sigmund Freud Vorlesung“ in Vorarlberg halten. In ihrem Frankfurter Vortrag im Juni 2003 in der Reihe „Psychoanalyse in der Literatur – Literatur in der Psychoanalyse“ setzte sie sich mit den kulturkritischen Texten Freuds auseinander und schloss so: „Und wie komme ich zu der Sicherheit, wie sie Freuds Aufsätze zum Krieg atmen. Wie diese Selbstverständlichkeit der Ruhe und des Abstands, wenn der Zorn so groß ist. Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, es zu halten wie bisher. Die Aufsätze lesen. Der Sicherheit des Arguments nachgehen. Darin. Und diesem Beispiel folgend, die Arbeit wieder von vorne beginnen und in all den Widersprüchen und Inkonsistenzen in dieser Arbeit bei sich bleiben. In allem Zorn.“

Jede Geburtstagsfeier stößt im Unbewussten auf die andere Seite des Lebens, den Tod. Also abschließend noch ein Freud-Zitat („Zeitgemäßes über Krieg und Tod“, 1915) zum Freud-Jahr: „Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.“

Günther Rösel

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Organisatorischer Hinweis zu der Vortragsreihe, siehe unter Veranstaltungen:
- Keine Anmeldung erforderlich
- Eintritt € 10- pro Veranstaltung


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Wahrheit und Wahl. Die Psychoanalyse begegnet der Literatur von Thomas Bernhard

Vortrag anlässlich des PSV / IAP-KollegInnentreffens
am 19.3.2004 in Bregenz


Beginnen wir mit einer Warnung. - Und zwar von Thomas Bernhard selbst:
"Je näher wir nach dem ersten Zusammentreffen unserem Schriftsteller gekommen sind, desto mehr und in gleicher Intensität haben wir uns von ihm entfernt, in dem gleichen Verhältnis, in welchem wir in seine Persönlichkeit eingedrungen sind, haben wir uns aus seinem Werk entfernt (…)"
(Der Stimmenimitator, 1978)

An anderer Stelle lässt Thomas Bernhard seine Romanfigur sagen:
"So ist es auch falsch, ein sogenanntes Kapitel in einem Buch wirklich zu Ende zu schreiben. (…) Und der größte Fehler ist, wenn ein Autor ein Buch zu Ende schreibt." (Der Italiener, 1971)

Jede Annäherung an die Literatur Thomas Bernhards bleibt ein Versuch, ein Fragment. So auch dieser Vortrag.
ROLAND BARTHES hat vom "Punktum" gesprochen: das jeweils Besondere; das betroffen Machende; der besondere Punkt. – "Etwas trifft mich. Es geht um das, was ich dem Text (der Photographie) hinzufüge und was dennoch schon da ist" (R. BARTHES).
In diesem Sinne des "Punktums" möchte ich einige Texte Thomas Bernhards befragen.

IMRE KERTÈSZ, Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2002 beschreibt
"die unermessliche Wichtigkeit des Romans als eines Prozesses, in dessen Verlauf der Mensch sein Leben zurückgewinnt."
"Der einzig mögliche Gegenstand des Romans" ist für KERTÈSZ:
"die Rückeroberung, das Erlebnis des Lebens." (Galeerentagebuch, Budapest 1992, S.166)

Was ist gute Literatur?
Wohl doch, dass ein Erzählfluss in Gang kommt. Dass sich Festgefahrenes löst, Neues entsteht. Und das könnte doch auch für die Psychoanalyse gelten: Dass ein Mensch seine Geschichte, seine Geschichten erzählt. Immer wieder und immer wieder. Bis sich - durch die Dynamik der Übertragung - das Allzu-Starre allmählich verflüchtigt, löst. So, dass ein Mensch nicht mehr von seiner Vergangenheit versteinert bleibt, sondern sich immer mehr der eigenen Gegenwart und Zukunft öffnet.

Aber wenden wir uns THOMAS BERNHARD zu. Jenem 1931 geborenen österreichischen Schriftsteller, von dem seine Landsfrau INGEBORG BACHMANN im Jahre 1969 sagte:
"In all den Jahren hat man sich gefragt, wie wird es wohl aussehen, das Neue. Hier ist es, das Neue. (...) Dass in der deutschen Sprache wieder die größte Schönheit, Genauigkeit, Art, Tiefe und Wahrheit geschrieben wird (...)"
INGEBORG BACHMANN im Jahre 1969 über Thomas Bernhard ("Gläserne Ruhe im Umgang mit einer zerbröckelnden Welt")

- Wie hat sich nun diese Literatur Thomas Bernhards entwickelt?

- Welchen Weg hat Thomas Bernhard von seinem Erstling "Frost"(1963) bis zu "Ereignisse" (1969), "Wittgensteins Neffe" (1982), "Auslöschung" (1986) und "Alte Meister" (1985) beschritten? – Im Sinne des "Punktums" (Roland Barthes) möchte ich diese Texte Thomas Bernhards befragen.

- Und was hat das alles mit "Wahrheit und Wahl" zu tun?

- Und könnte es sein, dass wir hier eine Verbindungslinie zwischen Literatur und Psychoanalyse entdecken? FREUD meinte: "Es geht in der Analyse um die Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen."

Der alte FREUD begriff das Leben als "Zusammen- und Gegeneinanderwirken beider Urtriebe Eros und dem Todestrieb, Thanatos" (In: „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) und „Abriß der Psychoanalyse“ (1938).
- Eros wird zur Gesamtheit der Lebenstriebe, - im Gegensatz zu den Todestrieben.
- "Der EROS der Dichter und Philosophen" (Freud) hält alles Lebende zusammen. (Eros steht dabei für „die Libido unserer Sexualtriebe“ (Jenseits des Lustprinzips, 1920).
- Dem TODESTRIEB (THANATOS) geht es darum, Zusammenhänge aufzulösen, die Dinge zu zerstören (Abriß der Psychoanalyse, 1938).




Ich beginne mit zwei der ersten Bücher Thomas Bernhards:
"FROST" aus dem Jahre 1963 und "EREIGNISSE" aus dem Jahr 1969. – Hören wir uns in den Eros-Thanatos-Sound etwas ein:


FROST (1963)
Im Jahr 1963 erzielt Thomas Bernhard seinen literarischen Durchbruch mit dem Roman "FROST". - Im Sinne des "Punktums" möchte ich von einem THANATOS-TEXT sprechen.

CARL ZUCKMAYER rezensierte dieses Buch damals in "Die Zeit" (1963) und schrieb über "Frost":
"Wenn ich an die Lektüre zurückdenke, höre ich ein merkwürdiges Poltern, wie wenn Eisbrocken, durch einen nächtlichen Föhneinbruch von der Dachrinne abgeschmolzen, auf der Schneekruste vorm Haus zerschellen ... Es wird da etwas zum Anklang gebracht, was wir mit Erlebtem, Erfahrenem, auch mit literarischen Vorbildern, kaum vergleichen können und was dem "ABGRUND MENSCH", von dem BÜCHNER sprach, neue Perspektiven erschließt."

"Frost" ist die Geschichte des Malers Strauch, des gescheiterten, verbitterten Strauch mit seinem gestrauchelten Leben …
Der junge Student hat den Auftrag bekommen, den Bruder seines Oberarztes - eben den Maler Strauch - aufzusuchen und zu beobachten.
Der Student gelangt nach WENG, "dem düstersten Ort, den ich jemals gesehen habe" (S.10).
Ich möchte Sie nun einladen, den folgenden Textauszug als "Sprache des Unbewussten" zu hören. In dem Sinne, dass sich hier in Weng eine Seelenlandschaft auftut:

"Tatsächlich erschreckt mich diese Gegend, noch mehr die Ortschaft, die von ganz kleinen, ausgewachsenen Menschen bevölkert ist, die man ruhig schwachsinnig nennen kann. Nicht größer als ein Meter vierzig im Durchschnitt, torkeln sie zwischen Mauerritzen und Gängen, im Rausch erzeugt. Sie scheinen typisch zu sein für das Tal. Weng liegt hoch oben, aber noch immer wie tief unten in einer Schlucht. Über die Felswände zu kommen ist unmöglich. Allein die Bahn unten schafft einen Ausweg. Es ist eine Landschaft, die, weil von solcher Hässlichkeit, Charakter hat, mehr als schöne Landschaften, die keinen Charakter haben. Alle haben sie da versoffene, bis zum hohen C hinaufgeschliffene Kinderstimmen, mit denen sie, wenn man an ihnen vorbeigeht, in einen hineinstechen. Zustechen. Aus Schatten zustechen, muss ich sagen, denn in Wahrheit habe ich bis jetzt nur Schatten von Menschen gesehen, Menschenschatten, in Ärmlichkeit und in wie tobsüchtig zitternder Schwüle. (S10/11)"

Wenn wir nun dem Maler Strauch weiter zuhören, wie er über das Geschlechtliche der Menschen spricht, dann begegnen wir THANATOS.
"Man weiß von ihren Exzessen. Man riecht ihre Geschlechtlichkeit. Man fühlt, was sie denken, vorhaben, diese Menschen, man fühlt, was Unerlaubtes in ihnen sich ständig zusammenzieht. Ihre Betten stehen unter dem Fenster oder hinter der Tür, oder es handelt sich überhaupt nicht um Betten: in ihnen bringen sie sich von einem auf das andere Fürchterliche...

Wie mit einem gut zugeschlagenen Fleisch gehen die Männer mit ihren Frauen um und umgekehrt, die einen mit den anderen, wie mit untergeordnetem Schwachsinn. Das könnte man alles als große Verbrechen verrechnen. Das Primitive ist Allgemeingut. Manche reagieren auf Absprache, andere wissen alles so gut wie von Natur aus ... die Hosen, die ihnen zu eng sind, die Röcke machen sie wild in sich selber.
Die Abende ziehen sich in die Länge: das geht nicht! Ein paar Schritte hinein, heraus, dahin, dorthin, um nicht erfrieren zu müssen ... Der Mund wird gehalten, das andere tobt sich aus ... der Morgen zieht einem übers Gesicht, dass man gar nicht weiß, wo oben und unten ist.
Das Geschlechtliche ist es, das alle umbringt. Das Geschlechtliche, die Krankheit, die von Natur aus abtötet"
(S.17).

Hören wir STRAUCH weiter zu. Ist es nicht frappant: So könnte ein Analysand, eine Analysandin in der Psychoanalyse drauflosreden, - ein schon recht fortgeschrittener übrigens...:
"Meine Zeit ist vergangen, so wie eine Zeit vergeht, die man nicht haben will. Ja, ich habe meine Zeit nie haben wollen. Die Krankheit ist die Folge der Interesselosigkeit an meiner Zeit, der Interesselosigkeit, der Arbeitslosigkeit, der Unzufriedenheit.
Die Krankheit ist ja gerade da aufgetreten, wo nichts mehr war ... meine Untersuchungen sind stehen geblieben, auf einmal habe ich gesehen: nein, diese Mauer übersteige ich nicht! Das war so: ich musste einen Weg finden, den ich noch nicht gegangen bin ... Die Nächte waren schlaflos, stumpf, grau ... manchmal bin ich aufgesprungen: und sah langsam alles Erdachte falsch werden, wertlos werden, alles wurde nacheinander, folgerichtig, wissen Sie, sinn- und zwecklos ..."
(S.28)

STRAUCH schildert seine Kindheit und Jugend:
"Meine Familie, die Eltern, alles, die ganze Welt, an der ich mich hätte anhalten können und an der ich mich immer anzuhalten versucht habe, hat sich für mich schon früh in Dunkelheit aufgelöst, war einfach über Nacht in Dunkelheit hinein verschwunden, hatte sich meinen Blicken entzogen, oder ich hatte mich von ihr entfernt, in Dunkelheit verzogen. (...)
Kindheit und Jugend waren ein ebenso grausames Alleinsein, wie mein Alter ein grausiges Alleinsein ist. (…)
Ich wusste mir niemals zu helfen, und ich weiß es heute am allerwenigsten. Das ist überraschend, nicht wahr? Die Menschen, glaube ich, tun nur so, als wären sie nicht allein, weil sie immer allein sind. Wenn man sieht, wie sie in ihren Gemeinschaften aufgehen: oder sind das gerade Beweise dafür, die Vereine, die Gesellschaften, die Religionen, die Städte, für unendliche Einsamkeit? Sehen Sie, es sind immer dieselben Gedanken. Unnatürlich, vielleicht. Zusammenhangsüberdrüssig. Vielleicht unsinnig. Dilettantisch, kann sein"
(S.28/29)

Nun, ein starkes Stück Selbst-Analyse STRAUCHS:
"Wenn zum Alleinsein eine gewisse brauchbare Selbständigkeit dazukommt“, sagte er, „dann ist es ja noch erträglich, aber ich hatte nie auch nur die geringste Selbständigkeit. Ich wusste nie, was anfangen. Mit dem, was auf einen zukommt, Einflüsse, Umwelt, Ich, mit dem wurde ich nicht fertig." (S.29)

Wir erfahren, dass Strauch - wie Thomas Bernhard selbst- bei seinen Großeltern aufgewachsen ist. Ihr Tod stürzte ihn in eine "Finsternis, die nicht mehr aufhören wird." (S.32)
Und dann dieser Satz, der zeigt, wie sehr die Existenz des Menschen tief in seine Kindheit reicht: Trotz allem seien "Kindheit und Jugend in ihm das einzige, wovon sich zu trennen nur schwerfällt." (S.33)

Der Student, der Besucher beginnt, STRAUCH zu analysieren:
"Er hält nicht viel von seiner MUTTER, noch weniger von seinem VATER, und seine GESCHWISTER seien ihm mit der Zeit so gleichgültig geworden, wie er ihnen, glaubt er, immer gleichgültig gewesen ist. - WIE er das aber vorbringt, das macht klar, wie sehr er seine Mutter geliebt hat und seinen Vater und seine Geschwister. Wie er an ihnen hängt!" (S.17)

Die Kindheit, die Jugend, die Tiefendimension des menschlichen Lebens. Davon lebt die Literatur. Davon lebt die Psychoanalyse. Wer von diesen Quellen abgeschnitten ist, spricht so, wie STRAUCH:
"Ja, ich bin ich selbst. Sehen Sie: mein ganzes Leben lang! ...
Und ich bin niemals ausgelassen gewesen! Niemals! Nicht froh! Nicht, was man glücklich nennt. Weil immer die Sucht zum Außergewöhnlichen, Eigenartigen, Exzentrischen, zum Einmaligen und Unerreichbaren, weil überall diese Sucht, auch was die Folterungen des Geistes anbelangt, mir alles verdorben hat"
(S.34).

Aber: Beim Maler Strauch taucht schon der so typische absurde Humor Thomas Bernhards auf, die Kunst der Übertreibung und Zuspitzung; Tragödie und Komödie vermählen sich "naturgemäß, wie er selbst sagen würde.

STRAUCH über sein Mörtel-Dasein:
"Ich prüfe mich fortwährend, ja, das ist es! Ich laufe immer hinter mir her! Sie können sich vorstellen, wie das ist, wenn man sich selbst aufschlägt wie ein Buch und lauter Druckfehler darin entdecken muss, einen nach dem andern, auf jeder Seite wimmelt es von Druckfehlern!
Und alles ist trotz dieser vielen hundert und tausend Druckfehler meisterhaft! Es handelt sich um eine Aneinanderreihung von Meisterstücken! (...) Ich stoße überall an die Mauern, die um mich herum sind. Ich bin schon der reinste MÖRTELMENSCH."
(S.34)


Und jetzt: Strauch erzählt dem jungen Studenten einen Traum. Sein Traum dreht sich zuerst um eine rätselhafte Landschaft:
"Ich habe heute einen Traum gehabt, von dem ich nicht mehr weiß, wo er sich abgespielt hat; aber doch in einer Landschaft, die mir immer vertraut gewesen ist; nur in welcher Landschaft, das weiß ich nicht mehr. Ein ungewöhnlicher Traum, keiner der hoffnungslosen, wie ich sie sonst immer träume.
Die Landschaft, wo der Traum sich abgewickelt hat, in Sekundenschnelle wahrscheinlich, war bald weiß, bald grün, bald grau, bald tiefschwarz. Nichts hatte die Farbe, die ihm nach menschlichem Ermessen zusteht. Der Himmel beispielsweise war grün, der Schnee war schwarz, die Bäume waren blau ... die Wiesen so weiß wie Schnee ... (...)
Das Merkwürdige war, dass die Menschen die Farben dieser Landschaft hatten. Ich hatte die Farbe der Wiese, dann die Farbe des Himmels, dann die Farbe eines Baums, schließlich die Farbe der Berge. Und hatte immer alle Farben zugleich. Mein Lachen verursachte in dieser Landschaft das größte Aufsehen.´, ich weiß nicht, warum. Diese ziemlich unregelmäßige Landschaft, wissen Sie, war so belebt, wie ich noch keine gesehen habe. Wohl eine Menschenlandschaft."
(S.36/37)


Nun: das fulminante Ende des Traums. STRAUCH verliert buchstäblich seinen Kopf:
"Plötzlich aber geschah etwas Grauenhaftes: Mein Kopf blähte sich auf, und zwar so, dass die Landschaft sich um einige Grade verfinsterte und die Menschen in Wehlaute ausbrachen, in ungeheuere Wehlaute, wie ich sie noch niemals gehört habe. In Wehlaute, die dieser Landschaft angepasst waren. Ich weiß nicht, warum.
Da mein Kopf plötzlich so groß und schwer war, rollte er von dem Hügel hinunter, auf dem ich gestanden war, über die weißen Wiesen, den schwarzen Schnee - in dieser Landschaft sind alle Jahreszeiten immer gleichzeitig! , und erdrückte viele der blauen Bäume und viele der Menschen. Das hörte ich. Plötzlich bemerkte ich, dass hinter mir alles abgestorben war. Abgestorben, tot. Mein großer Kopf lag in einem toten Land. In Finsternis. Er lag so lange in dieser Finsternis, bis ich aufwachte."
(S.37/38)

Die Last der Depression ist eben auch eine Lust an der Depression, am Thanatos.
Der ungarische Schriftsteller IMRE KERTÈSZ stößt in seiner Selbst-Analyse auf eine Quintessenz der Psychoanalyse: KERTÈSZ beschreibt die Zeit seiner zurückliegenden „schweren Depression“ so:
"Wohltuend. Die Freude an der Zerstörung, diese eigenartige Befriedigung, auf seine Art sogar Glück. Denn Unglück ist letzten Endes natürlich Glück. Insofern es sich nämlich genießen lässt. Auch am Unglück haftet Libido." (Galeerentagebuch, Budapest 1992, S.278)

Der Maler Strauch, - ein Maler, der eigentlich längst kein Künstler mehr ist, badet sich in seinem Unglück, bis zum bitteren Ende, dem sich abzeichnenden Freitod. Thanatos.

Unser erster Romanheld scheitert daran, seinen persönlichen Lebensentwurf, seine WAHRHEIT zu finden bzw. zu er-finden. Und so kommt es auch nicht zu einer WAHL, wo sich ein Mensch zu entscheiden wagt, - wo sich der eigene Weg öffnet, wo sich die Welt des eigenen Begehrens auftut.


















"EREIGNISSE" (1969)


Es gibt aber schon beim frühen Thomas Bernhard eine ganz andere Literatur, einen Eros-Text. - Zeitgleich zu "Frost" arbeitete Thomas Bernhard an dem Buch "EREIGNISSE" (1969), einer Ansammlung von Geschichten über die Abgründe des Menschen. Geschichten vom Rande der Sprache.

Die allererste Geschichte von "EREIGNISSE": ein Anti-FROST-Mittel
"ZWEI JUNGE LEUTE flüchten in einen Turm, der zur Verteidigung der Stadt diente, und besteigen ihn, ohne ein Wort zu sprechen. Sie wollen ihr Schweigen nicht durch einen Verrat auslöschen und gehen mit gedankenloser Schnelligkeit an ihr Vorhaben.
In halber Höhe des Turms erblicken sie einen nicht errechenbaren Ausschnitt der Landschaft, in welcher der Turm steht.
Die Kälte der Mauern lässt sie wie in einem Eisklumpen zur Höhe taumeln:
mit offenen Mündern und nach vorn ausgestreckten Armen, in der Idee, dass sie durch diese halbwahren Gebärden die Entfernung, die sie zurücklegen wollen, künstlich verringern könnten.
Nun zeigt sich, dass DAS MÄDCHEN durch ihre Phantasie größere Schnelligkeit betreiben kann als der geistig beschränkte junge Mann, und es ist wichtig, festzustellen, dass das Mädchen, obwohl es acht oder zehn Treppen hinter dem jungen Mann, ihrem Liebhaber, emporsteigt, in Wahrheit ihm um 15 oder 20 Treppenlängen voraus ist. Der völlig fensterlose Turm ist eine Vorstufe der Finsternis und als solche ganz deutlich erkennbar. Als sie endlich oben angekommen sind, ziehen sie sich aus und fallen sich nackt in die Arme."
(S.7/8)

Die Klugheit und Lebensenergie des Mädchens wird zur Rettung. Und: Die zwei jungen Leute stürzen sich in ihre Sexualität, - … eine kleine Revolution in der Thomas-Bernhard-Welt …

Noch einmal kurz zurück zu STRAUCH, der resümiert:
"Ich habe mich mein ganzes Leben lang wehren müssen. Gegen die Frauen vor allem. (...) Hüten Sie sich vor den Frauen, aber noch mehr vor dem weiblichen Teil in Ihnen, der darauf aus ist, aus Ihnen ein Nichts zu machen." (S.217)





WITTGENSTEINS NEFFE
EINE FREUNDSCHAFT (1982)

"WITTGENSTEINS NEFFE" ist die Geschichte einer Freundschaft, - eines Versuchs der Freundschaft (Jahre zwischen 1967 – 1979).

- Und zwar die Freundschaft zwischen Thomas Bernhard und PAUL WITTGENSTEIN, einem Neffen des Philosophen Ludwig Wittgenstein.
- Die Beiden lernten sich bei einem Sanatoriumsaufenthalt kennen.
- Seit Paul Wittgensteins 35. Lebensjahr brach seine "Nervenkrankenheit" – wie Thomas Bernhard sie nennt - immer wieder durch.
- Anfänglich finanziell sehr gut gesichert durch die Reichtümer einer der reichsten Familien Österreichs, verschenkte er sein Vermögen unbekümmert an Freunde und Arme, bis er selbst – nach dem Tod seiner Frau - in Armut und Krankheit dahinvegetierte.
- Am Ende seines Lebens vereinsamte PAUL WITTGENSTEIN immer mehr. Davon ist auch die Freundschaft zum Ich-Erzähler betroffen:

THOMAS BERNHARD beschreibt sein eigenes Scheitern schonungslos:
- "Ich hatte ihn plötzlich nicht mehr ausgehalten, fortwährend dachte ich, dass ich ja schon nicht mehr mit einem Lebendigen, sondern mit einem längst Toten zusammensitze und habe mich von ihm zurückgezogen." (S.127)
- "Ich mied in den letzten Monaten seines Lebens meinen Freund ganz bewusst aus dem niedrigen Selbsterhaltungstrieb, was ich mir nicht verzeihe.“ (S.148)
- „Ich bin kein guter Charakter. Ich bin einfach kein guter Mensch. Ich zog mich von meinem Freund zurück wie seine anderen Freunde auch, weil ich mich wie diese vom Tod zurückziehen wollte. Ich fürchtete die Konfrontation mit dem Tod."
(S.149)
- Den Wunsch Paul Wittgensteins, an seinem Grab eine Rede zu halten, hat der Ich-Erzähler dem Freund nicht erfüllt, - dieses Grab auch nie besucht. …
- Dafür aber hat Thomas Bernhard eines seiner schönsten Bücher geschrieben: WITTGENSTEINS NEFFE. EINE FREUNDSCHAFT (1982)


Wir erfahren, dass die Beiden sich auf dem Wilhelminenberg kennen gelernt haben: Paul auf dem Pavillon Ludwig der "Irrenanstalt", der Ich-Erzähler auf dem Pavillon Hermann der "Lungenanstalt".

"Wie der PAUL sich jahrelang mehr oder weniger fast zu Tode gerannt hat in SEINER Verrücktheit, so hatte ICH mich mehr oder weniger jahrelang zu Tode gerannt in MEINER. Wie der Weg des PAUL immer wieder in einer IRRENANSTALT hatte enden müssen, abgebrochen hatte werden müssen, so hat MEIN WEG immer wieder in einer Lungenanstalt enden, abgebrochen werden müssen." (S.33)

Wir erfahren von der "krankhaften Selbst- und Weltüberschätzung" der Beiden, von "der krankhaften Rücksichtslosigkeit gegen sich selbst und gegen alles" (S.32/33).

KRANKHEIT wird in "WITTGENSTEINS NEFFE" aber auch als Ausdruck der Subversion begriffen:
"Wie der PAUL immer wieder ein HÖCHSTMASS AN AUFSÄSSIGKEIT gegen sich und gegen seine Umwelt erreicht hat und in die Irrenanstalt eingeliefert werden musste, habe ICH SELBST immer wieder ein HÖCHSTMASS AN AUFSÄSSIGKEIT gegen mich und gegen meine Umwelt erreicht und bin in eine Lungenanstalt eingeliefert worden. Wie der PAUL immer wieder und in immer kürzeren Abständen, wie sich denken lässt, sich selbst und die Welt nicht mehr ertragen hat, habe auch ICH in immer kürzeren Abständen mich selbst und die Welt nicht mehr ertragen und bin, genauso wie der PAUL in der Irrenanstalt, in der Lungenanstalt wieder zu mir gekommen, wie gesagt werden kann (S.33/34)."

Der Ich-Erzähler macht dann aber auf einen wichtigen Unterschied zwischen den beiden Männern aufmerksam:
"Der Unterschied zwischen dem PAUL und mir ist ja nur der, dass der PAUL sich von seiner Verrücktheit hat vollkommen beherrschen lassen, während ich mich von meiner ebenso großen Verrücktheit niemals habe vollkommen beherrschen lassen, ER ist sozusagen in seiner Verrücktheit aufgegangen, Während ich meine Verrücktheit zeitlebens AUSGENÜTZT habe, beherrscht habe. (…) Ich habe beide, die Verrücktheit genauso wie die Lungenkrankheit, AUSGENÜTZT: Ich habe sie zu meiner EXISTENZQUELLE gemacht, eines Tages von einem Augenblick auf den andern für mein ganzes Leben." (S.35/36)

THOMAS BERNHARD hat in einem Interview folgenden Satz formuliert: "Meine Krankheit ist mein KAPITAL." Es geht um das Kapital für sein Schreiben, seine kreative Ausdruckskraft: "Aufschreiben von höchstem Unglück kann höchstes GLÜCK sein" (Korrektur 1975, S.245).
Dies ist für mich eine zentrale psychoanalytische Erkenntnisquelle, ganz im Sinne des Plädoyers von SLAVOJ ZIZEK: "Liebe dein Symptom, wie dich selbst …" (SLAVOJ ZIZEK: Liebe dein Symptom wie dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien. Berlin 1991)


"WITTGENSTEINS NEFFE" erzählt von einem Abenteuer der besonderen Art: Die beiden Freunde – in Begleitung einer Freundin - sind auf der Suche nach der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG (S.88f.):

"Einmal hatte ich DIE NEUE ZÜRCHER ZEITUNG haben müssen, ich wollte einen Aufsatz über die Mozartsche ZAIDE, der in der Neuen Zürcher Zeitung angekündigt gewesen war, lesen und da ich die Neue Zürcher Zeitung, wie ich glaubte, nur in SALZBURG, das von hier 80 Kilometer weit weg ist, bekommen kann, bin ich im Auto einer Freundin und mit dieser und dem PAUL um die Neue Zürcher Zeitung nach SALZBURG, in die sogenannte weltberühmte Festspielstadt gefahren. Aber in Salzburg habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen.

Da hatte ich die Idee, mir die Neue Zürcher Zeitung in BAD REICHENHALL zu holen und wir sind nach Bad Reichenhall gefahren, in den weltberühmten Kurort. Aber auch in Bad Reichenhall habe ich die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen und so fuhren wir alle drei mehr oder weniger enttäuscht nach NATHAL zurück.
Als wir aber schon kurz vor NATHAL waren, meinte der PAUL plötzlich, wir sollten nach BAD HALL fahren, in den weltberühmten Kurort, denn dort bekämen wir mit Sicherheit die Neue Zürcher Zeitung und also den Aufsatz über die Zaide und wir sind tatsächlich die 80 Kilometer von NATHAL nach BAD HALL gefahren. Aber auch in BAD HALL bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht.
Da es von BAD HALL nach STEYR nur ein Katzensprung ist, 20 Kilometer, fuhren wir auch noch nach STEYR, aber auch in STEYR bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht. Nun versuchten wir unser Glück in WELS, aber auch in WELS bekamen wir die Neue Zürcher Zeitung nicht.

Wir waren insgesamt 350 Kilometer gefahren, nur um die Neue Zürcher Zeitung und hatten am Ende kein Glück gehabt. So waren wir dann völlig erschöpft, wie sich denken lässt, in ein WELSER RESTAURANT gegangen, um etwas zu essen und uns zu beruhigen, denn die Jagd nach der Neuen Zürcher Zeitung hatte uns an den Rand unserer physischen Möglichkeiten gebracht. In vieler Hinsicht, denke ich jetzt, wenn ich mich an diese Geschichte mit der Neuen Zürcher Zeitung erinnere, sind der PAUL und ich uns ziemlich gleich gewesen.
Wenn wir nicht total erschöpft gewesen wären, wären wir sicher auch noch nach LINZ und nach PASSAU, vielleicht auch noch nach REGENSBURG und nach MÜNCHEN gefahren, und schließlich hätte es uns auch nichts ausgemacht, die Neue Zürcher Zeitung ganz einfach in ZÜRICH zu kaufen, denn in ZÜRICH, so denke ich, hätten wir sie mit Sicherheit bekommen.

Da wir in allen diesen angeführten und von uns an diesem Tag aufgesuchten Orten die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen haben, weil es sie in ihnen auch während der Sommermonate nicht gibt, kann ich alle diese aufgeführten Orte nur als miserable Drecksorte bezeichnen, die absolut diesen unfeinen Titel verdienen. Wenn nicht einen dreckigeren. Und es ist mir damals auch klar geworden, dass ein GEISTESMENSCH nicht an einem Ort existieren kann, in dem er die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommt.
Man denke nur, dass ich die Neue Zürcher Zeitung selbst in SPANIEN und in PORTUGAL und in MAROKKO während des ganzen Jahres in den kleinsten Orten mit nur einem einzigen windigen Hotel bekomme. Bei uns nicht! Und an der Tatsache, dass wir in so vielen angeblich so wichtigen Orten die Neue Zürcher Zeitung nicht bekommen haben, selbst in SALZBURG nicht, entzündete sich unser aller Zorn gegen dieses rückständige, bornierte, hinterwäldlerische, gleichzeitig geradezu abstoßend größenwahnsinnige Land.
Wir sollten uns nur immer da aufhalten, wo wir wenigstens die Neue Zürcher Zeitung bekommen, sagte ich und der PAUL war absolut meiner Meinung.
Ich bin, fällt mir ein, bis heute nicht zu dem Aufsatz über die Zaide gekommen."

(S.88-91)


Hier blitzt der THOMAS BERNHARDsche HUMOR auf. Jener Humor, der seine Kraft aus der Übertreibung und Zuspitzung bezieht. Nur: Die Übertreibung geht so ins Uferlose, dass sich letztlich alles relativiert.
- In "Wittgensteins Neffe" hören wir durchaus noch den Ton des Malers Strauch aus "Frost".
- Aber alles ist gebrochener. Der Autor nimmt sich selbst "hoch", … im wahrsten Sinn des Wortes.


Wie heißt es in der "AUSLÖSCHUNG" (S.129):
"Es gibt nichts Besseres, als in höherem Alter zum Narren ernannt zu sein. Das höchste Glück, das ich kenne, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist das des Altersnarren, der gänzlich unabhängig seinem Narrentum nachgehen kann.
Wenn wir die Möglichkeit dazu haben, sollten wir uns spätestens mit vierzig zum Altersnarren ausrufen und versuchen, unser Narrentum auf die Spitze zu treiben. Das Narrentum ist es, das uns glücklich macht."




Übrigens:
"Wittgensteins Neffe" ist auch ein Buch, in dem Thomas Bernhard erstmals von seinem "Lebensmenschen" erzählt; jener "Lebensfreundin", die "vor über 30 Jahren" an seiner Seite aufgetaucht ist und der er „mehr oder weniger alles verdanke“. (S.30/31). (Es handelt sich um Hedwig Stavianicek: 1894 – 1984.)
"Ohne sie wäre ich überhaupt nicht mehr am Leben und wäre ich jedenfalls niemals der, der ich heute bin, so verrückt und so unglücklich, aber auch glücklich, wie immer." (Wittgensteins Neffe, S.31)







AUSLÖSCHUNG. EIN ZERFALL (1986)


Dieses Buch ist der letzte publizierte und gleichzeitig umfangreichste Prosatext von Thomas Bernhard. "Frost" war noch eine Geschichte der inneren und äußeren Tyrannei. Bei "Auslöschung" handelt es sich – im Sinne des "Punktums" - um die Geschichte einer Befreiung.

"Auslöschung" ist der Titel einer Niederschrift, die die Romanfigur FRANZ-JOSEF MURAU in seinem letzten Lebensjahr in Rom verfasst hat. Diese Aufzeichnungen waren für Murau unumgänglich geworden. Er schreibt über seine Herkunft, die seine Existenz zerstört habe.
Dieser "Herkunftskomplex" lässt sich mit dem Namen seines Geburtsortes bezeichnen: WOLFSEGG (!!!). Hier ist Franz-Josef Murau aufgewachsen. Hier wird ihm irgendwann klar: Will er sich, seine persönliche Existenz retten, dann muss er Wolfsegg verlassen. Er geht nach Rom.

Obwohl er seinen Geburtsort schon lange mied, muss Murau nun dennoch dorthin reisen. Seine Eltern und sein Bruder sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Dieser erneute Aufenthalt in Wolfsegg macht Murau deutlich, dass er sich endgültig lösen muss. Und zwar nicht nur räumlich, sondern vor allem auch innerlich.


Eine psychoanalytische Essenz dieses Romans: Man muss Altes - im übertragenen Sinn - auslöschen bzw. loslassen, damit das Neue, das Eigene beginnen kann.
THOMAS BERNHARD über "DIE KORREKTUR": "Das ist das Wichtigste im Leben überhaupt, dass man sich jeden Tag, wenn man aufwacht, schon von vornherein KORRIGIERT und sich fragt: Wie ist der letzte Stand der Dinge?"

Was ist das Neue in "Auslöschung"?
Von Anfang an verfügt Murau über etwas, was all seinen Roman-Vorgängern verweigert wurde: Er hat einen Mentor, der ihn weder ängstigt, noch missbraucht. Ein Mentor, der ihn annimmt, der ihm den Weg in die Freiheit weist. Es handelt sich um seinen Onkel, den jüngeren Bruder des Vaters. (Diese Romanfigur ist an den realen Großvater mütterlicherseits angelehnt.)


Hören wir uns an, wie dem Heranwachsenden "die Augen für die Welt geöffnet wurden":
"Wie ich ja überhaupt einen Großteil meines Geistesvermögens meinem Onkel Georg verdanke. Er, mein Onkel Georg, hatte mir schon sehr früh sozusagen die Augen für die übrige Welt geöffnet, mich darauf aufmerksam gemacht, dass es außer Wolfsegg und dass es außerhalb Österreichs auch noch etwas anderes gibt, etwas noch viel Großartigeres, etwas noch viel Ungeheuerlicheres und dass die Welt nicht nur, wie allgemein üblich angenommen wird, aus einer einzigen Familie, sondern aus Millionen Familien besteht, aus nicht nur einem einzigen Ort, sondern aus Millionen solcher Orte und nicht nur aus einem einzelnen Volk, sondern aus vielen Hunderten und Tausenden von Völkern und nicht nur aus einem einzigen Land, sondern aus vielen Hunderten und Tausenden von Ländern, die alle jeweils die schönsten und wichtigsten sind."

"Die ganze Menschheit ist eine unendliche mit allen Schönheiten und Möglichkeiten, sagte mein Onkel Georg.
Nur der Stumpfsinnige glaubt, die Welt höre da auf, wo er selbst aufhört.
Mein Onkel Georg hat mich aber nicht nur in die Literatur eingeführt und mir die Literatur als das Paradies ohne Ende geöffnet, er hat mich auch in die Welt der Musik eingeführt und mir für alle Künste die Augen geöffnet."
(S.34)

- Dieser Ton ist nicht mehr der frostige Ton aus "Frost", die Geschichte des verzweifelten Malers Strauch, der dem Studenten von Tristesse und Vernichtung erzählt.
- In "Auslöschung" werden dem Romanhelden "die Augen geöffnet". Es findet so etwas wie eine Initiation statt. Nun wird die Mannigfaltigkeit des Lebens entdeckt, durch die Vermittlung des Mentors, des Onkels Georg.
- Die Welt besteht also nicht nur aus WOLFSEGG und WENG …


Hören wir zu, wie dieser Mentor seinem Neffen die Freiheit vermitteln konnte, wie er ihm das DENKEN + PHANTASIEREN lehrte:
"Mit dem Onkel Georg habe ich die weitesten und interessantesten Spaziergänge in der Umgebung Wolfseggs gemacht, mit ihm bin ich zu Fuß bis nach Ried im Innkreis in der einen und bis nach Gmunden in der anderen Richtung gegangen.
Er hatte sich immer Zeit genommen für mich. Dass es auf der Welt auch noch etwas anderes als Kühe, Dienstboten und streng einzuhaltende gesetzliche Feiertage gibt, diese Erkenntnis habe ich ihm zu verdanken. Ihm verdanke ich die Tatsache, dass ich nicht nur lesen und schreiben, sondern auch tatsächlich denken und phantasieren gelernt habe.
Es ist sein Verdienst, dass ich Geld zwar sehr hoch, aber nicht am allerhöchsten einschätze und dass ich die Menschheit außerhalb Wolfseggs nicht nur als ein notwendiges Übel betrachte, wie zeitlebens die Meinigen, sondern als einen lebenslänglichen Ansporn, mich mit ihr auseinanderzusetzen als der größten und spannendsten Ungeheuerlichkeit. (...)
Meinem Onkel Georg verdanke ich, dass ich schließlich nicht nur ein mechanisch sich in die Wolfsegger Geld- und Wirtschaftsmühle fügender, sondern ein durchaus als frei zu bezeichnender Mensch geworden bin."
(S.44/45)

Übrigens: "Auslöschung" erzählt auch von einem anderen Österreich. Ein Österreich des Widerstands: Der Onkel Georg engagierte sich im Kampf gegen den Faschismus. - Jeder, der die Österreich-Beschimpfungen Thomas Bernhards im Ohr hat, wird überrascht. Hier ist nicht vom allzeit "nationalsozialistisch-katholischen Österreich" die Rede. Nein hier beweist ein Älterer Rückgrat und Integrität. Gerade dadurch wird er zum Vorbild für den Jüngeren.

Zurück zum Titel meines Vortrags: "WAHRHEIT & WAHL". Was hat er mit den beiden Romanfiguren zu tun?
* Das Elend aus der Einheit von Kindheit und Geschichte wird erkannt. Die Auseinandersetzung wird gesucht. Im Bewusstwerden des eigenen Kindheitstraumas eröffnet sich die Chance, über das eigene Leben ein Stück weit disponieren zu können, kein de-realisiertes Leben zu leben.
* Beide Romanfiguren erkennen ihre ganz subjektive "Wahrheit", nämlich das, was ganz persönlich für sie zählt.
* Das WEGGEHEN wird zur Voraussetzung für ein befreiteres Leben. Beide treffen ihre "Wahl": Sie verlassen Wolfsegg, den wölfischen Geburtsort.
Sie distanzieren sich radikal von ihrer Herkunftsfamilie und ziehen in den Süden, - auf der Suche nach einem eigenen, einem unbeschwerteren Leben.
* Beide wählen sich als "Geistesmensch", übernehmen die Verantwortung für sich selbst.




ALTE MEISTER (1985)
Zu dem Buch, das ich heute als Letztes befragen möchte, fällt mir – im Sinne des PUNKTUMS - der ADORNO-Satz ein: "Das Ganze ist das Unwahre."
Das 1985 erschienene Buch "ALTE MEISTER" ist für mich ein FRAGMENT-TEXT:

Der 82-jährige Musikphilosoph REGER ist ein Freigeist. Seit langer Zeit verbringt er jeden zweiten Vormittag im Bordone-Saal des Wiener Kunsthistorischen Museums. Hier liest und studiert er die Werke der "Alten Meister", - vornehmlich sein "Lebensbild", den "Weißhaarigen Mann" von Tintoretto.

Der 82-Jährige, der seit 30 Jahren aus Wien für die Londoner "Times" kleine Musikkritiken verfasst, hat seine Kunstbetrachtung zur regelrechten Perfektion entwickelt. Jedes Kunstwerk, das als "vollendet" gilt, wird – in größter
Besessenheit - so lange studiert, bis dessen Fehler aufgedeckt sind.
Reger kommt zum schlichtweg verzweifelnden Schluss: Alle "Alten Meister" und "Großen Geister" sind letztlich unvollkommen.

Es ist also wieder einmal schlichtweg zum Verzweifeln …

Schließlich aber beginnt REGER, in diesem Unvollkommenen das Glück zu entdecken!
Selten liest er ganze Bücher. Er genießt das Umblättern:
"Ich bin mehr Umblätterer als Leser, müssen Sie wissen, und ich liebe das Umblättern genauso wie das Lesen, ich habe in meinem Leben millionenmal mehr umgeblättert, als gelesen, aber am Umblättern immer wenigstens so viel Freude und tatsächliche Geisteslust gehabt, wie am Lesen." (S. 39)

Ein doch recht ehrlicher Ton über den Wissenschaftsbetrieb, oder …?

REGER meint: "Wer alles liest, hat nichts begriffen. Es ist nicht notwendig, den ganzen GOETHE zu lesen, den ganzen KANT, auch nicht notwendig, den ganzen SCHOPENHAUER; ein paar Seiten WERTHER, ein paar Seiten WAHLVERWANDTSCHAFTEN und wir wissen am Ende mehr über die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang zum Ende gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste Vergnügen bringt." (S. 40)

Hier nun äußert sich ein Stück Lebensweisheit - die „Wahrheit und Wahl - des späten Thomas Bernhard, wenn er REGER sagen lässt:
"Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene." (S. 41)

Der 82-jährige Musikphilosoph resümiert:
"Keines dieser weltberühmten Meisterwerke, gleich von wem, ist tatsächlich ein Ganzes und vollkommen. Das beruhigt mich, sagte er. Das macht mich im Grunde glücklich. Erst wenn wir immer wieder darauf gekommen sind, dass es DAS GANZE und DAS VOLLKOMMENE nicht gibt, haben wir die Möglichkeit des Weiterlebens." (S. 42/43)

Psychoanalytisch gesprochen:
- Im Fragment, im Unvollkommenen äußert sich der EROS. Die Analyse vor der Synthese. Alles bleibt offen. Der Mensch auf der Suche …
- In der Vollkommenheits-Besessenheit dagegen lauert THANATOS, Auflösung, Zerstörung.

Doch hören wir weiter REGER zu:
"Lesen Sie, was Sie lieben, aber dringen Sie nicht total ein, hören Sie, was Sie lieben, aber hören Sie es nicht total, schauen Sie, was Sie lieben, aber schauen Sie es nicht total an. Weil ich alles immer total angeschaut habe, immer alles total gehört habe, immer alles total gelesen habe oder wenigstens immer den Versuch gemacht habe, alles total zu hören und zu lesen und anzuschauen, habe ich mir schließlich und endlich alles vergraust. (...)
Jetzt weiß ich aber, dass ich nicht total lesen und dass ich nicht total hören und nicht total betrachten und anschauen darf, will ich weiter leben. ES IST EINE KUNST, nicht total zu lesen und nicht total zu hören und nicht total zu betrachten und zu schauen, sagte er. (...) Jahrzehntelang habe ich alles total tun wollen, das war mein Unglück."
(S. 68-70)


Das begehrende Subjekt weiß vom eigenen Seinsmangel. Auch kein Objekt kann ihm genügen. Alles bleibt Fragment, stete Suche. Darin sieht JACQUES LACAN den Grund für das Unstillbare, Leidenschaftliche des Begehrens. Lacan folgt SPINOZA und meint: „Das Wesen des Menschen ist BEGEHREN“. Es handelt sich um das unbewusste Begehren.

LACAN verknüpft die Ethik der Psychoanalyse mit dem Begehren: "Dass das Subjekt sein Begehren anerkennt und benennt, dies ist die wahre Wirkung der Analyse. Durch das Benennen schafft das Subjekt eine neue Präsenz in dieser Welt."

ALBERTO GIACOMETTI beschrieb es am Ende seines Lebens sehr prägnant: "Wie schön. Alles bleibt ein Versuch."

Glück bedeutet aus psychoanalytischer Sicht: "seine Grenzen anzuerkennen und sie zu lieben. Der Psychoanalyse geht es darum, dass der Mensch „auf seinem Weg mehr in Einklang mit sich selbst sein kann."
(Juan-David NASIO: 7 Hauptbegriffe der Psychoanalyse. Wien: Turia und Kant 1999, S.153)

Der 82-jährige Musikphilosoph REGER erleidet schließlich das, was Thomas Bernhard selbst in dieser Zeit des Romanschreibens erleben musste: den Tod seiner Frau.

Hören wir REGER zu. Er spricht nun auf eine Weise, als ob er auf der Couch des Analytikers liegen würde:
"Ich zog mehrere Laden aus mehreren Kommoden und schaute hinein und nahm immer wieder Bilder und Schriften und Korrespondenzen meiner Frau heraus und legte alles nacheinander auf den Tisch und schaute nach und nach alles an, mein lieber Atzbacher, da ich ehrlich bin, muss ich sagen, dass ich dabei weinte.
Ich ließ meinem Weinen plötzlich freien Lauf, Jahrzehnte habe ich nicht mehr geweint und auf einmal ließ ich meinem Weinen freien Lauf, so REGER. Ich saß da und ließ meinem Weinen freien Lauf und ich weinte und weinte und weinte und weinte, so REGER. Jahrzehnte habe ich nicht geweint, seit der Kindheit nicht mehr und auf einmal ließ ich meinem Weinen freien Lauf."
(S. 284)

Und nun relativieren sich die Dinge des Lebens:
"Ich saß da und schaute die Briefe an, die meine Frau mir im Laufe der Zeit geschrieben hat und las die Notizen, die sie im Laufe der Zeit gemacht hat und weinte mich aus.
Wir gewöhnen uns natürlich in Jahrzehnten an einen Menschen und lieben ihn Jahrzehnte und lieben ihn schließlich mehr als alles andere und ketten uns an ihn und wenn wir ihn verlieren, ist es tatsächlich so, als hätten wir alles verloren.
Immer habe ich geglaubt, die Musik ist es, die mir alles bedeutet, manchmal ja auch, die Philosophie ist es, die hohe und die höchste und die allerhöchste Schriftstellerei, wie überhaupt, dass es ganz einfach die Kunst ist, aber alles das, die ganze Kunst, wie auch immer, ist nichts gegen diesen einen einzigen geliebten Menschen."
(S. 284/285)


Diese Worte Regers haben einen völlig anderen Klang im Oeuvre Thomas Bernhards. Hier öffnet sich eine Welt des Begehrens.

Erinnern wir uns an die erste Romanfigur des frühen Thomas Bernhards, an den verbitterten, um sich schlagenden Maler STRAUCH aus "Frost" (1963).
Wie hat dieser Strauch sein Leben resümiert:
"Ja, ich habe meine Zeit nie haben wollen. Die Krankheit ist die Folge der Interesselosigkeit an meiner Zeit, der Interesselosigkeit, der Arbeitslosigkeit, der Unzufriedenheit. (...)
Und ich bin niemals ausgelassen gewesen. Niemals! Nicht froh! Nicht, was man glücklich nennt. Weil immer die Sucht zum Außergewöhnlichen, Eigenartigem, Exzentrischen, zum Einmaligen und Unerreichbaren, weil überall diese Sucht, auch was die Folterungen des Geistes anbelangt, mir alles verdorben hat. (...)
Ich stoße überall an die Mauern, die um mich herum sind. Ich bin schon der reinste Mörtelmensch ..."
(S.34)


Doch zurück zu dem am Ende seines Lebens stehenden 82-jährigen REGER in „Alte Meister“:
• REGER regt sich … REGERS Name liegt ganz nahe bei "regen". Es ist die eigene psychische Realität, die sich REGT.
• Reger, Thomas Bernhards späte Romanfigur, ist auf dem Weg nach seiner Lebenswahrheit. Und er steht dazu. Er wählt, - nämlich seine Lebensspur, die Wahrheit seines Begehrens.
• Darum geht es doch auch in der Psychoanalyse: Um die Öffnung des eigenen Seins, um die Entdeckung des "Möglichkeitssinnes" des eigenen Lebens.




Was ich Ihnen - zum Schluss noch - nicht vorenthalten möchte:
Den Original-Ton THOMAS BERNHARDS, - wie er über seine Literatur spricht (aus einem Interview der späteren Jahre):

- FRAGE: Sind Sie sich beim Schreiben über sich selbst klarer geworden?
- "Nein, immer unklarer. (…) Irgendwie hab ich mich entwickelt und wahrscheinlich auch die Art zu schreiben. Und die Biographie hat sich auch entwickelt. (…) Es ist am Ende eine ganz andere Schreibweise wie in "Der Ursache". Eher gelöster, würde ich sagen. Am Anfang war’s eher verkrampft. Und dann hat sich’s im Lauf der Zeit und mit den Jahren doch eher gelöst."
- FRAGE: "Je weiter Sie in die Kindheit zurückgegangen sind, desto direkter ist es geworden?"
- "Desto direkter und befreiender war es eigentlich dann. Irgendwie löst es sich dann auf …"
- FRAGE: "Und es ist Ihnen nicht peinlich, so offen und schonungslos über sich selbst erzählt zu haben?"
- "Was soll peinlich sein? (…) Am Besten schreibt man über das, was man selbst erlebt hat. Innere Vorgänge, das was niemand sieht, sind das einzig Interessante an Literatur überhaupt. Die einzige Triebfeder ist ohnehin nur die, zu sagen, was niemand sagt oder zu schreiben, was niemand schreibt (…) Bis zum Herzen, und wenn das auch heraußen ist, hört sich’s eh auf …" "Wenn man an den Tod denkt, ist alles lächerlich …"

Günther Rösel

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